Sommer, Sonne, Sortimente. Der Messetermin in Mailand ist für Einrichter immer aufregend. Diesmal ganz besonders, weil es die erste richtige Messe seit drei Jahren ist und dieser Termin, jetzt im Sommer, etwas von einem Urlaubsgefühl verspricht. Die Aussicht auf die große Stadt, Menschen, Hersteller, alte Bekannte und farbige Neuheiten erfüllt mich mit prickelnder Freude.
Kamera, Sonnenbrille und alle Zugangstickets sind zurechtgelegt und dann das – Mailand empfängt uns mit Regen. Ich meine richtigen Regen – solchen, den es nur hier zu geben scheint – mit hastigen Scheibenwischern, tiefen Pfützen, schutzsuchenden Menschen und stockendem Verkehr.
Es ist Mittag. Wir retten uns, laufend, vorbei an der Porto Nuova direkt unter schützende Lauben hinein ins Herz dieser Stadt, in die Zona Moda. Beim Lieblingsgastronomen wird ein Teil des herrlichen Innenhofs von einem Dach geschützt. Und weil man in Italien etwas später zu Mittag isst, gibt es genügend Platz und gleich darauf Pasta.
Der Auftakt dieser Versöhnung heißt Prosecco und – es war wirklich genau so – als der letzte Schluck aus der Flasche fließt, bricht die Sonne durch. Zuerst nur durch eine Wolkenlücke, aber gleich sehr stark und hell. So wie der Dampf jetzt hochfährt in die Luft, so kommt wieder Bewegung in die Stadt und in unser Team. Gestärkt und versöhnt kann diese Messe beginnen.
Hot Spot für Fashion und Design
Zuerst sind wir aber einmal hier, im Herzen dieser Hauptstadt, die wie keine andere zwischen französischem Stil und italienischer Kreativität oszilliert. Verwöhnt durch reiche Provinzen und dem ständigen Zuzug begabter Kunsthandwerker.
Heute ein weltgewichtiger Hot Spot für Fashion und Design, besonders deutlich hier in der Zona Moda, in den Gassen rund um die Via Monte Napoleone. Pulsierend, geschäftig und schrecklich stylisch.
Bambole – vom Skandal zum Klassiker
Unsere nächster Halt ist der Schauraum von B&B Italia in der Via Durini, der Mutter aller italienischen Möbelmarken. Der Sohn des Gründers, Giorgio Busnelli, hat kurz vor der Pandemie – als eine seiner letzten Geschäftshandlungen vor seiner Pension – unser B&B Studio in Fügen eröffnet. Im letzten Sommer, als wir mit seinem Art-Direktor Piero Lissoni ein Interview gedreht haben, hat er mir vom Erfolg seines Lieblings-Klassikers erzählt. Es wäre jetzt das weltweit am stärksten nachgefragte Modell, diese „Camaleonda“ von Mario Bellini aus dem Jahr 1970. Man hätte es aus einer Laune heraus neu aufgelegt – Bellini, heute knapp 90 Jahre alt, hat am Relaunch wirklich nichts geändert. Es ist das originale Modell – nur die Bezugsstoffe werden heute aus recycelten PET-Flaschen produziert. Die Menschen lieben dieses bodennahe Modul-Postermöbel aus Kabeln, Haken und Ringen vielleicht auch deshalb so, weil es ein Fenster öffnet in eine unbeschwerte Zeit und einen grenzenlosen Glauben an eine bessere Welt. Heute steht ein weiterer Klassiker im Schaufenster. Das Kissensofa „Bambole“. Genau vor 50 Jahren ist es erschienen. Das Key Visual zur Einführung war damals handfester Skandal. Das US-Model Donna Jordan, die Muse von Andy Warhol, räkelte sich halb nackt auf dem Sofa. Bei Wetscher wurde das Bild gleich für ein Inserat übernommen – blieb mir natürlich nur wegen des Möbels in Erinnerung.
Nach der Überarbeitung für die Wiederauflage zu dieser Messe ist es auch richtig bequem geworden. Lässig unkonventionell, samt Aura von der großen Freiheit – die ist ihm geblieben. Ein Flair, das aktuell fast alle namhaften Premiumhersteller aufgreifen – die großen Möbeldesigns des letzten Jahrhunderts haben eben nicht nur ihr formales Bestehen und ihre Qualität bewiesen, sondern liefern uns auch die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit.
Frische Brise aus dem Norden
Und so finden sich auch auf diesem Salone einige großartige Neuauflagen von alten Bekannten und – das ist diesem Jahr wirklich unübersehbar – von den handwerklich wunderbaren skandinavischen Sesseln und Stühlen. Diese Modelle sind echte Nordländer, protestantisch erfrischend klar, raffiniert und bestens gebaut für die Ewigkeit. An deren Stil und Qualität erfriert der Zahn der Zeit. Hier, inmitten einer Vielfalt katholischer formaler Üppigkeit, wirken sie wie Felsen in der Brandung vergänglicher Trends. Möbel-Klassiker sind und waren auch immer bleibende Werte, passen in die unterschiedlichsten Wohnumgebungen und ziehen meistens mit um. Wenn wir wollen, begleiten sie uns ein ganzes Leben, haben die Fähigkeit, die Zeit im Zuhause ein wenig anzuhalten.
Miss Piggy in Brera
Cassina – zwei Palazzi neben B&B Italia – ist die Marke für Klassiker schlechthin. Dort sind seit jeher die Rechte für fast alle großen Möbelentwürfe geparkt. Neben Le Corbusier, Gerrit Rietvelt, Mies van der Rohe, Charles Rennie Mackintosh usw. wird auch eine kleine zeitgemäße Kollektion gezeigt. Art-Direktorin ist die in Mailand lebende, spanische Architektin Patricia Urquiola. Und sie treibt es heuer knallig bunt, zeigt Neuheiten und Klassiker in ungewohnt farbigem Framing. Diese Farben wirken wie lautstarkes Geschrei gegen Krieg und Not, damit sie wieder aufwacht, die Vielfalt, Schönheit und Liebe dieser Welt. Auf der Straße laufen wir in einen bekannten Journalisten eines deutschen Möbelmagazins, der uns von rosaroten Möbeln der Marke USM im Stadtteil Brera erzählt und die Wahl dieser fürs Wohnen völlig ungeeigneten Farbe in ähnlicher Weise interpretiert: die Welt ist heute nur durch die rosarote Brille zu ertragen.
Meister des Lichts
Von den Klassikern geht‘s zu diesen herrlich gesteppten Sofas von Baxter in ein aufgelassenes Kino, zu Rimadesio, wo die schönsten Glaswände lautlos durch winzige Deckenfugen gleiten – wir sind im Tresorraum einer alten Bank, nehmen endlose Treppen im Edra Palazzo in der Bel Etage, um Gartenmöbel zu bestaunen, deren blau-transparentes Kunststoffmaterial in diesem Licht aussieht wie schmelzendes Eis.
Wir überrennen Möbelkollegen, Repräsentanten, Journalisten, ein Heer von Influencern, um endlich bei Occhio, dem Shooting Star der Lichtszene, anzukommen. Auch dort Menschenmassen vor einem hell bestrahlten Innenhof. Aus der Decke fahren wie von Zauberhand bewegt elegant-schmale Leuchtbögen heraus. Wie alle Leuchten von Occhio werden auch diese berührungslos gesteuert. Licht mit lediglich einer Geste zu befehligen – ein- und auszuschalten, der eigenen Stimmung angepasst zu dimmen – hat etwas Schöpferisches. „Durch Gestensteuerung zum Herrn des Lichts werden“ – kommt der Hersteller auf seiner deutschen Website auch ganz direkt zum Punkt. Wir in den Tiroler Bergen würden uns tatsächlich öfters wünschen, die Sonne per Geste steuern zu können.
Entspannung bei Flexform
Es ist jetzt richtig heiß geworden, hier mitten in der Stadt. Unser Weg führt uns über mindestens einen Campari ins Künstlerviertel Brera. Rund um die altehrwürdige Kunstuniversität „Accademia di belli Arti“ spinnen sich enge Gassen und es herrscht ein Gewusel an Studenten, Kreativen von Boutiquen, Showrooms, Galerien und Restaurants.
Mittendrin das neue Flexform Studio – sofort als Gegenwelt zu Minotti wahrnehmbar. Tragen die Möbel bei Minotti enganliegende Anzüge wie die Italiener selbst, wird es bei Flexform in diesem Jahr gemütlich, weich, leger. Neue Formen trauen sich was, kleiden sich in alle Schattierungen von Berry, reichen uns weit sichtbar die Hand zur Entspannung.
Und die Messe?
Wie sich alle freuen wieder hier zu sein. Filmreife Begrüßungsszenen am Eingang und auf den Ständen. Wobei Messestände gibt es hier keine mehr. Minotti präsentiert sich auf mehreren tausend Quadratmetern, eigentlich als Haus im besten Stile eines Mies van der Rohe mit Sichtbeton, endlosen Achsen und einem Riesenpool an Neuheiten. Bei Poliform sind die Schrank- und Wohnmöbel Teil der Raumarchitektur. Es gibt keine weiße Wand mehr, nichts Hingestelltes oder Zufälliges. Selbst die leise und klar ordnende Schattenfuge ist über sich hinausgewachsen – jetzt ein eigener Metallkörper gibt sie dem Blick Halt. Die Polstermöbel verspielen sich in organischen Formen, liegen fest und tief am Boden und federn diese stylishe Strenge diplomatisch ab.
Metamorphose eines Gartenzwergs
Und Poliform hat die Küche neu gedacht: Kochen, Essen und Wohnen gehen mehr denn je fließend ineinander über. Völlig verschwunden ist in all diesen Raumweiten der Gartenzwerg der Küchengestaltung: die schnöden, braven Hängekästchen weichen endgültig einer Armada an raumhohen Paneelen und Schränken – die im Übrigen auch jenen Bereich verbergen, den heute jede Küche braucht: die Hinterküche, in die alle jene Arbeiten und Gerätschaften wandern, die früher durch das Schließen der Küchentüre ausgeblendet werden konnten.
Wer noch tiefer in das Thema eintauchen will: den gesamten Messe-Trendbericht gibt es hier…
Ende und Aus
Auf dem Heimweg lassen wir die Eindrücke Revue passieren, erfüllt von visuellen Reizen aller Art. Und anstatt des Regens begleitet mich jetzt die Wehmut, nicht gleich alle Neuheiten mit nach Hause nehmen zu können. Aber selbst das ist diesmal anders, die auf der Messe präsentierte Poliform-Küche haben wir schon vorab bestellt. Sie zeigt sich Ende Juli in den Wohngalerien und führt die vielen italienischen Marken und Neuheiten an, die insgesamt in dieser Vielfalt und Breite sonst nirgends zu sehen sind. Little Italy im Zillertal, zumindest was das Einrichten betrifft, und ganz sicher bei jedem Wetter einen Besuch wert.