Die neuesten Trends bei der „Maison & Objet“ in Paris setzen ein Ausrufezeichen hinter unsere Weitläufigkeit und Weltgewandtheit. Offenbaren aber auch unsere Sehnsucht nach Echtem. Statements werden mit viel Natur und Handgemachtem aus den verstecktesten Ecken der Welt gesetzt.
313 km/h, schneller als ein kleines Flugzeug, rast der deutsche Schnellzug durch die französische Landschaft. Richtung Paris, vorbei an den abgeernteten Feldern, durch sanfte Hügel vom Rhythmus vorbeifliegender Leitungsmasten durchzogen.
Das Braun der Felder wechselt zwischen Beige und Gelb. Das Grün der Bäume ist da und dort noch frisch und pastellig grün, wird gelegentlich satt und dunkler. Dem Himmel über Paris entgegen – welch unendliche Weite dieses Blau doch zeichnet – und wie das grelle Weiß der kleinen Wolken allen Farben mit Referenz dient.
Die Reflexion in der Bewegung
Mit ähnlich großer Geschwindigkeit dreht sich unsere zerrissene Welt, deren digitalen Eskapaden wir atemlos ausgeliefert scheinen. In der Bewegung genieße ich hier einen Augenblick der Reflexion. Spätestens nach diesem heißen Sommer wird die Geschichte mit dem Klima wirklich jedem klar. Und genau deshalb war unsere Suche nach unberührter Natur, nach Authentizität noch nie so groß – und beeinflusst so auch unser Zuhause. Diese Sehnsucht nach Echtem spiegelt sich auch bei der Möbelmesse in der französischen Hauptstadt später wider – in Material, Haptik, Farben und Formen.
Neues entsteht aus Verbrauchtem
Zuvor aber noch schnell ein Abstecher. Der tonangebende Concept Store ‚Merci‘ in Paris macht es auch in diesem Jahr vor und beeindruckt mit seiner Upcycling Ausstellung. Neues aus Verbrauchtem. Als Fingerzeig wie kollektive Stimmungen in Waren zu gießen sind.
Beim Eintauchen in die Pariser Möbelmesse bleibt schließlich die hohe Geschwindigkeit meine Konstante. Das Messegelände als eigenes Reich des Trends, des Geschmacks, der neuesten Entwürfe. Maßlos groß und in seiner Vielfalt eingangs schwer zu lesen. Und doch lassen sich Entwicklungen freilegen, sind große Strömungen unverkennbar.
Opulente Inszenierung der Natur
Da ist der große Hang zur Natur. Das viele Grün, die großen Blätter auf Stoffen und Tapeten, die übergehen bzw. ein Bild ergeben mit den fein geordneten Zimmerpflanzen. Mehr oder weniger unterstützt mit Motiven und Skulpturen aus tiefen Ozeanen oder dunklen Wäldern. Gehalten durch kleine, streng geometrische Muster. Hier zeigt sich die Suche des Städters nach der Verbindung mit der Natur.
Zerknittert, rau, unbehandelt, unfertig
Ein starkes Verlangen nach Ursprünglichkeit ist überall zu erspüren. Hauptsache man sieht den Dingen ihre Handwerklichkeit von Weitem an. Zerknittert und rau und unbehandelt, fast unfertig. Gras, Ton, Pappmaché und aufgeraute Strukturen. Organische, fließende Formen stehen im Vordergrund – manchmal fühlt man sich an die Form von Meerestieren erinnert.
Unübersehbar, allgegenwärtig sind Tiermotive. Auf Tapeten, Stoffen, in Bildern und gar als Sofas gibt es treublickende Hunde, kuschelige Bären, Löwen und Flamingos. Wo sehen wir uns hier selbst – das bleibt auf den ersten Blick rätselhaft. Aber auch hier scheint wieder die Sehnsucht nach Harmonie und Exotik stark durch – die augenscheinlich hier eine Verbindung mit ironischem Augenzwinkern eingeht.
Alles offenbart Herkunft
Das Thema Ton, Handwerk und Unikat ist nun auch auf der Messe angekommen. Teller, Schalen, Vasen in organischer Struktur – sie wirken optisch wie selbst gewachsen.
Alles offenbart Herkunft. Es braucht die gute Geschichte – auch bei den Dekorationsgegenständen. So importiert der deutsche Hersteller ames seine Vasen, Töpfe und Schalen aus Kolumbien und lässt sie dort von einfachsten Handwerkern nach überlieferten Traditionen fertigen. Wie über Jahrzehnte der Natur schutzlos ausgeliefert stehen manche Neuheiten gekonnt beleuchtet auf dieser Messe.
Neue Beletage – Zeitalter der Statements
Letztlich werden alle Möbel und Einrichtungsgenstände zu klaren Statements. Wichtiger Ausdruck von uns selbst. Herzeigbar und 100-fach geteilt und geliked. Entsteht hier eine neue Art von Einrichtung, die wieder stark auf vordergründige Repräsentanz abzielt? Eine zeitgemäße Ausprägung der alten Beletage?
Klar wird hier in Paris: Wir wollen in den Wohnräumen unsere Persönlichkeit wie nie zuvor spiegeln. Wir setzen mit unseren Möbeln, die den sachlich funktionalen Vorstellungen entwachsen, individuelle Statements. Wir setzen ein Ausrufezeichen hinter unsere Weitläufigkeit und Weltgewandtheit. Man glaubt in die Wohnungen des Sammlers und Entdeckers zu sehen, eines Bewohners, der die Unterschiedlichkeit der Welt mit großer Neugierde und als Bereicherung erlebt. Deshalb wollen wir so viel Natur wie möglich und deutlich sichtbar Handgemachtes aus den verstecktesten Ecken der Welt präsentieren. Wir tragen zusammen, weil wir unterwegs in der Welt das uns Wichtige sehen und sammeln.
Das echte (Bistro-)Leben leben
Fazit: Wer sich hier in Paris aufgrund des grenzenlosen Angebots und der schier nie enden wollenden Hallen tatsächlich vor gnadenlos durchgestylter Optik retten will – der tut gut daran, die Verbindung zur Welt, zu den eigenen Bedürfnissen, zum Wirt um die Ecke nicht zu verlieren. Diese Welt nicht nur zu repräsentieren, sie auch zu leben – sollten wir das vergessen haben?
Ich nehme die Anregungen aus Paris wieder gerne mit, reflektiere mit Abstand und mit einer Prise Humor die treublickenden Tiermotive. Nicht alle Trends tierisch ernst zu nehmen, um das echte Leben zu genießen – so widersetze ich mich der Geschwindigkeit und dem Rausch meiner Eindrücke. Dieser Gedanke bekommt schließlich abseits der Pariser Trendschau mehr und mehr Raum – im Bistro gegenüber.