Bei einer Reise zurück in die Architekturgeschichte lässt sich viel für die Gegenwart und Zukunft des Wohnens ableiten. Und das ging so…
Eine gute Autostunde von Wien, hinter den endlosen Weiten des Weinviertels, im tschechischen Brünn steht die Villa Tugendhat, ein nach Plänen des Architekten Mies van der Rohe errichtetes Wohnhaus für das Unternehmer-Ehepaar Fritz und Grete Tugendhat. Dieses Haus reiht sich in seiner Bedeutung in die „Kronjuwelen“ der Moderne wie Le Corbusiers Villa Savoye, Frank Lloyd Wrights Haus Robie und dem Haus Schminke von Hans Scharoun ein.
Grete Tugendhat meinte einmal über ihr Zuhause:
„Ich habe mir immer ein geräumiges, modernes Haus mit klaren, einfachen Formen gewünscht. Und mein Mann war geradezu entsetzt von Zimmern, die bis an die Decke mit Figürchen und Zierdecken vollgestopft waren.“
Ist das also „die Moderne“? Hier im tschechischen Brünn? Zumindest waren die Fenster keine Löcher mehr und statt des vielen Nippes sollten einfache, klare Formen und moderne, weitläufige Räume ein ganz neues Raumgefühl bieten. Die Villa Tugendhat, die Architekt Mies van der Rohe 1929 ersonnen und für die Tuchfabrikanten gebaut hat, ist eines der paar Wohnhäuser, die heute als Anbeginn des neuen Bauens gelten. Nach außen hin uneitel, mehr vom inneren Raumbedürfnis her geplant, mit einer ganz neuen Überlegung zur Statik; die Last der Decken wird auf schmale Säulen verteilt statt auf die dann schwer wirkenden Außenwände. Die sichtbare Fassade zur Stadt hin ist eine gesamte Fensterfront, wirkt leicht und öffnet mit dem herrlichen Blick wahrscheinlich auch den Geist. Vieles von der heute selbstverständlichen Haustechnik wurde vom Architekten selbst entwickelt (wie die Lüftungs- und Heizungsanlage), sie gelten bis heute als pionierhafte Meisterleistungen.
Innen entstand eine ganz neue Atmosphäre. Fließend, weitläufig, lichtdurchflutet. Fast verschwimmen die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum. Die Raumgrenzen messerscharf geschnitten, in streng disziplinierter Proportion ergeben eine neue, bestechende Ästhetik. Ist das etwas das Ende der Gemütlichkeit? Wie wird eine solche formale Konsequenz bewohnbar? Ist die Perfektion der Hülle nicht Stress für unser Selbst? Und wenn es stimmt, dass der gebaute Raum das preisgibt, wer wir Bewohner im besten Fall sein könnten (Alain de Botton), dann würde uns diese Architektur zu besseren Menschen machen.
Überliefert ist, dass sich Mies van der Rohe – und seine Lebensgefährtin Lilly Reich – mit viel Akribie und noch mehr Zeit um den Innenraum bemüht haben. Stundenlang wurden unterschiedlichste Stoff- und Farbmuster für die neuesten Möbelentwürfe und Textilen im Raum ausprobiert. Smargadgrünes Leder, handgewebte Teppiche, Travertin, das noble Furnier aus Markassaebenholz und der Onyxmarmor wurden vom Architekten selbst vor Ort in Paris, resp. der Türkei ausgewählt. Abseits von Schmuck und Ornament, aber auch abseits reiner Zweck- und Preisdiktate schaffen die wenigen Möbel, deren Materialen, Strukturen, Farben, vor allem aber deren edle Provenienz jene Brücke zu schlagen, die zur eigentlichen Wohnatmosphäre führen. Das war Programm und funktioniert. Besonders sichtbar im sonst so strengen Schlafzimmer von Frau Tugendhat, das etwas fraulicher werden sollte mit dem Sessel in kirschrotem Leder und dem Schafwollteppich auf dem Boden.
Modernes Bauen und ausgeklügelte Technik sind heute weit verbreitet. Bewohnbare Raumatmosphären in die formal reduziertesten Gebäude zu zaubern bleibt aber eine große Herausforderung. Gelingen mag es besser ohne Plastik und Gummibaum – ohne den kurzlebigen Tand der Möbelkaufhäuser. Wert und Material und Handwerk hauchen auch unseren heutigen geradlinigen Räumen Seele ein und sind es wert, im Tageslicht der großen Fenster besonders zur Geltung zu kommen. Und fürs Einrichten wünschten sich auch heutige Bewohner zu Recht einen Innenarchitekten mit dem Zeitbudget aus den frühen 30iger Jahren…